Die vier Jahreszeiten

Betrachtungen, Lebensenergie & Lyrik

Frühling –
Jahreszeit im Zeichen des Holz-Elements


Liebe Qi Gong- und Taiji-Interessierte
Liebe Freunde der inneren Kultivierung

Das chinesische Neujahrsfest fällt stets in den Zeitraum zwischen 21. Januar und 21. Februar nach westlichem Kalender, nämlich jeweils auf den zweiten Neumond nach der Wintersonnwende. Den Frühlingsanfang (Lichun) hingegen bestimmt ausschliesslich das Sonnenjahr: 4./5. Februar, Halbzeit zwischen Wintersonnwende und Frühjahrs-Tag-und-Nacht-Gleiche. Die weiteren jeweils 15-tägigen Abschnitte des bis Anfang Mai dauernden Frühlings heissen Yushui (Regenwasser), Jingzhe (Erwachen der Insekten), Chunfen (Tag-und-Nacht-Gleiche), Qingming (Hell und klar) und Guyu (Saatregen).

Im System der fünf Wandlungsphasen (Wu Xing) ist der Frühling durch das Element Holz und die Farbe Grün bestimmt, durch die junge, frische, auch ungestüme Vitalkraft. Als vorherrschender klimatischer Faktor dieser Jahreszeit gilt der Wind, der auch eine potentielle Krankheitsursache darstellt. Im I Ging entsprechen dem Holz die Trigramme Zhen (“das Erregende”, der Donner; Yang-Aspekt) und Xun (“das Sanfte”, der Wind; Yin-Aspekt). Zhen ist dem Osten, dem Morgen, Xun dem Südosten, dem Vormittag zugeordnet.

Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) empfiehlt, in dieser Jahreszeit dem Organ-Funktionskreis Leber – Gallenblase, der dem Holz-Element zugeordnet wird, besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In den Wintermonaten haben wir uns weniger bewegt und sind seltener an der frischen Luft gewesen. Unsere Nahrung war ärmer an Vitaminen und Ballaststoffen; es überwogen Fette und Kohlehydrate, und wir haben, wenn wir an die zurückliegenden Feiertage denken, eher mal zuviel Alkohol getrunken. Die Tage waren kurz und trüb; unsere Augen wurden durch Bildschirmarbeit und Lesen bei künstlichem Licht strapaziert.

Nun ist es Zeit, unsere Lebensenergie wieder in Schwung zu bringen. Hierzu einige Vorschläge:

Die Aufgabe der Leber ist es, den Körper zu entschlacken und zu entgiften – darin können wir sie durch eine Kur mit den frischen, grünen Kräutern des jungen Frühlings, v.a. Bärlauch und Löwenzahn, sowie durch eine massvolle, ausgewogene, fett- und salzarme Ernährung mit viel frischem Obst und saisonalem Gemüse wie Grünkohl, Chicorée, Feldsalat, Spinat und Rhabarber unterstützen.
Die Leber sorgt gemäss TCM für den freien, ungehinderten Fluss des Qi im Netz der Energieleitbahnen und damit indirekt auch für eine gute Durchblutung unseres Körpers – deshalb vermeiden wir jetzt bewusst alles, was zu Verspannungen und Stockungen auf körperlicher wie auf psychischer Ebene führt: träges Herumsitzen, Miesepetrigkeit, Frust und Ärger (der die Leber ganz besonders schädigt!) ebenso wie Überanstrengung und Stress. Schon der altchinesische Medizinklassiker Huangdi Neijing rät:

Da der Frühling die Jahreszeit ist, in der die kosmische Energie von neuem einsetzt und sich verjüngt, versucht, diese Aufbruchstimmung nachzuempfinden, indem Ihr körperlich und gefühlsmässig offen und unbelastet seid. (…) Auf emotionaler Ebene ist es förderlich, Gleichmut zu entwickeln, denn der Frühling ist die Jahreszeit der Leber. Schwelgt Ihr in Zorn, Frustration, Depression, Traurigkeit oder in irgendeiner anderen Emotion, schädigt Ihr die Leber.
(Zitiert nach Maoshing Ni: Der Gelbe Kaiser. Das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin. Frankfurt a.M. 1998.)

Die Fliessfunktion der Leber unmittelbar anregen können wir durch tägliche Fingerdruckmassage des Akupunkturpunktes LE 3 Taichong (auf dem Fussrücken oberhalb des Zwischenraums zwischen Gross- und zweitem Zeh in der Furche zwischen den beiden Mittelfussknochen).
Die Leber “kontrolliert” Sehnen und Muskeln. Unser Beitrag: regelmässige Bewegung! Spazierengehen, Wandern, Jogging, Walking, Schwimmen, Tanzen, Yoga, Taiji Quan, Qi Gong… Hören wir nochmals das Huangdi Neijing:

Auf physischer Ebene ist es förderlich, den Körper zu ertüchtigen und locker sitzende Kleidung zu tragen. Es ist die Zeit für Dehnungsübungen, die Sehnen und Muskeln lockern. (Ebda.)  

Meinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern empfehle ich daher jetzt v.a. die vierundzwanzig daoistischen Gesundheitsübungen, die acht Brokatübungen (Ba Duan Jin) – und daraus speziell die Leber-Übung Die Fäuste ballen und mit den Augen funkeln – sowie die Leber-Übung aus dem Set Sechs heilende Laute.
Die Leber “öffnet sich” in den Augen; sie sind das dem Holz-Element zugeordnete Sinnesorgan. Öffnen wir wieder die Augen beim Spazierengehen im Frühlingswald und nehmen wir die junge Grünkraft bewusst auf! Die Sehkraft unterstützen können wir ausserdem mithilfe von yin- und blutstärkenden Heilpflanzen wie Baldrian (Valeriana officinalis), Bocksdornfrüchte (Lycium barbarum, Goji-Beeren), Borretsch (Borago officinalis), weisse Pfingstrose (Paeonia alba) und Wegwarte (Cichorium intybus), im Sommer dann zusätzlich mit allen einheimischen roten bis blauroten Beeren.
Spezielle Übungen für die Pflege der Augen werden hier auf der Seite ‘Downloads’ angeboten.
Typisch für Störungen der Holz-Energie bzw. des Leber-Funktionskreises sind Gereiztheit, Spannungszustände und Beschwerden wie Kopf- und Bauch-, namentlich auch Menstruationsschmerzen. Uns selbst behandeln können wir mittels Akupressur von Ex-HN 3 Yintang (mitten zwischen den Augenbrauen; bei Stirnkopfschmerzen), Ex-HN 5 Taiyang (in der Verlängerung der Augenbrauen an den seitlichen Rändern der Augenhöhlen; bei Migräne, Schläfen- bzw. seitlichen Kopfschmerzen), GB 20 Fengchi (an der Schädelbasis, je 2 Fingerbreit beidseits der Mittellinie; bei Migräne, Nacken- und Nackenkopfschmerzen), REN 12 Zhongwan (auf dem Oberbauch mitten zwischen Brustbeinspitze und Nabel; bei Magenbeschwerden und Bauchschmerzen aller Art), MI 6 Sanyinjiao (4 Fingerbreit oberhalb der inneren Fussknöchel an den Hinterkanten der Schienbeine; bei Bauchschmerzen, Verdauungs- und Menstruationsbeschwerden). Dazu in allen genannten Fällen LE 3 Taichong (Beschreibung s. weiter oben) und DI 4 Hegu (an beiden Händen inmitten der fleischigen Falte zwischen Daumen und Zeigefinger; bei Schmerzen jeglicher Art, v.a. im oberen Bereich des Körpers).
An Heilkräutern bieten sich an: Engelwurz (Angelica archangelica) bei Verdauungsbeschwerden, nervösen Bauchschmerzen und Koliken; Frauenmantel (Alchemilla vulgaris) bei Magen- und Unterleibskrämpfen, Menstruationsschmerzen und Zyklusanomalien; Kurkuma (Gelbwurz, Curcuma longa, Wurzel) bei Leber- und Gallenblasenerkrankungen, Fett- und Eiweissstoffwechselstörungen, Blähungen, Reizdarm, zur Förderung der Gallensekretion; Pestwurz (Petasites hybridus) bei Erkältungen, Fieber, Kopfschmerzen, Migräne, PMS, Angst- und Spannungszuständen; Pfefferminze (Mentha piperita) bei Kopfschmerzen mit Augenrötung, Fieberkopfschmerzen, Gastritis, Magenkrämpfen, PMS; Schafgarbe (Achillea millefolium) bei Gastritis, Bauchkrämpfen und Menstruationsschmerzen.

 

Haiku zum Frühling

Für alle Türen
ist der Dreck der Holzschuhe
der Frühlingsanfang.

Kobayashi Issa

Der Frühlingswind, horch,
läuft durch die Weizenfelder
wie Wasserrauschen.

Mokudô

Du gehst nun fort, ach,
und die Weiden sind so grün
und der Weg so weit.

Taniguchi Buson

Den ganzen Tag durch
wird sie des Singens nicht satt,
die kleine Lerche.

Matsuo Bashô

Die Welt voll Leid, ach,
selbst wenn die Kirschen blühen –
doch wenn schon, denn schon!

Kobayashi Issa

Kleines Spatzenkind,
rasch aus dem Weg, aus dem Weg –
ein Hengst geht doch durch!

Kobayashi Issa

Die Schmetterlinge –
was sie wohl träumen mögen
beim Flügelspreizen?

Fukuda Chiyo-ni

Erwach, erwach doch
und werde mein Gefährte,
verträumter Falter!

Matsuo Bashô

Der Frühling scheidet
in späten Kirschenblüten
mit leisem Zaudern.

Taniguchi Buson

Bashô (1644-94), Zen-Mönch, Pilger, überragende Gestalt der Haiku-Dichtkunst, einer der “grossen Vier”. Buson (1716-84), nach dem von ihm verehrten Bashô der zweite der “grossen Vier”, Schüler des Hayano Hajin; auch bedeutender Tuschmaler. Chiyo-ni (1703-75), schrieb bereits als Kind Haiku, Enkelschülerin Bashôs, populäre Dichterin, später Nonne. Issa (1763-1828), in ärmlichen Verhältnissen lebender, leidgeprüfter Familienvater, herausragender Dichter, einer der “grossen Vier” der Haiku-Tradition. Mokudô (1666-1723), Schüler des Altmeisters Bashô. – Die Übersetzungen stammen von Jan Ulenbrook.

Frühling mit Issa

Kobayashi Yatarô (der erste ist, wie in Japan üblich, der Familienname) wurde 1763 im Dorf Kashiwabara, heute ein Stadtteil von Shinano, Präfektur Nagano, in eine wenig begüterte Bauernfamilie geboren. Als sich der Vater nach dem frühen Tod seiner Mutter wieder verheiratete, verliess der Vierzehnjährige seine Heimat und lebte lange Zeit in Edo (Tôkyô), wo er Schüler angesehener Haiku-Meister und bald selbst ein erfolgreicher junger Dichter wurde, der sich 1790 den Künstlernamen Issa (wörtlich: “ein Schälchen Tee”) gab. 1792 pilgerte er auf den Wunsch seines Vaters zum Haupttempel der Jôdo-Shinshû (Amida-Sekte des japanischen Buddhismus) in Kyôto und begann damit eine achtjährige Phase als wandernder Dichter und Laienmönch. 1801 besuchte er die Heimat und begleitete während Wochen fürsorglich den Sterbeprozess des schwer erkrankten Vaters. Nach dessen Tod zogen sich die Erbstreitigkeiten mit der Stiefmutter und dem jüngeren Halbbruder über Jahre hin; erst als Fünfzigjähriger übernahm er schliesslich den väterlichen Hof und konnte heiraten. Tragischerweise starben ihm die Kinder aus dieser Ehe und 1823 auch die geliebte Gattin Kiku. Sein Alter war überschattet von zwei weiteren Ehen, die nicht glücklich waren, von Krankheit und zuletzt vom Brand des Wohnhauses, der dazu führte, dass Kobayashi sein Sterbelager 1827 im feuchtkalten, zugigen Speicher seines Hofes fand.

Der schon zu Lebzeiten beliebte, wenngleich finanziell wenig erfolgreiche Dichter hinterliess ein umfangreiches Werk von um die 20 000 Haiku, daneben Prosaschriften wie Die letzten Tage meines Vaters oder Mein Frühling, ein Tagebuch aus der Zeit, als sein geliebtes Töchterchen Satojo starb. Seine Haiku sind ungekünstelt, sehr persönlich und zeugen eindrücklich von Issas Frömmigkeit, seinem Mitgefühl für die leidende Kreatur, seiner Liebe selbst zu kleinsten und vermeintlich unbedeutenden Lebewesen wie Mäuse, Frösche, Schnecken, Fliegen und Heuschrecken – und von seinem unverwüstlichen und auch immer wieder selbstironischen Humor. 

Die Übersetzungen stammen von Gerolf Coudenhove (GC), G. S. Dombrady (GSD), Dietrich Krusche (DK), Anna von Rottauscher (AvR), Rudolf Thiem (RT) und Jan Ulenbrook (JU).

 

Für alle Türen
ist der Dreck der Holzschuhe
der Frühlingsanfang.

(JU)

Der Schnee ist geschmolzen:
Das Dorf läuft über
von Kindern.

(DK)

So schlicht und einfach
fand sich der Frühling heut ein:
als Blau des Himmels!

(JU)

Der Frühling fängt an
und von neuem kehrt Dummheit
auf Dummheit zurück.

(JU)

Die Katze hat geschlafen.
Sie streckt sich, gähnt und geht
auf Liebe aus.

(DK)

Stiehl diesen,
sagt das Mondlicht, diesen
Pflaumenblütenzweig!

(DK)

Auch auf der kleinsten Insel
hat der Bauer im Feld
über sich seine Lerche.

(DK)

Weg da, kleines Spatzenkind!
Schnell aus dem Weg! – Es naht
Seine Durchlaucht, das Pferd!

(GSD)

Den stolzen Junker
liess doch vom Pferde steigen
die Kirschenblüte.

(JU)

Fortgehen muss ich –
in den Bergen der Heimat
blühen die Kirschen.

(RT)

Kalt ist die Welt und
voll Schmerz, auch wenn die
Kirschen jetzt blühen.

(RT)

Ängstliches Fröschchen,
sei nicht bange!
Ich bin’s, Issa!

(AvR)

Er sieht mich an, der Frosch –
aber was macht er
für ein Gesicht?

(DK)

Das kleine Kätzchen
am Waagebalken baumelt,
der in die Luft ragt.

(JU)

Kaum war er erblüht,
hat den Mohn der Wind verweht,
noch am gleichen Tag!

(GC)

Sommer –
Jahreszeit im Zeichen des Feuer-Elements

Liebe Qi Gong- und Taiji-Interessierte
Liebe Freunde der inneren Kultivierung

In China ist seit alters ein Lunisolarkalender in Gebrauch, der das neue Jahr jeweils mit dem zweiten Neumond nach der Wintersonnwende beginnen lässt. Da zwölf Mondzyklen nur 12 x 29 = 348 Tage ergeben, benötigt dieses Kalendersystem in gewissen Abständen Schaltmonate. Daneben ist aber auch ein reiner Sonnenkalender wie unser gregorianischer gebräuchlich, der dort als Bauernkalender bezeichnet wird und das Jahr in vier Jahreszeiten und vierundzwanzig Jahresabschnitte zu 15 bzw. 16 Tagen einteilt. Allerdings markieren die Sonnwenden und die Tag-und-Nacht-Gleichen nicht wie bei uns den Beginn, sondern den Höhepunkt, die zeitliche Mitte der jeweiligen Jahreszeit. Der Sommeranfang (Lixia) fällt demnach bereits auf die Tage um den 5. und 6. Mai. Die weiteren Abschnitte des Sommers sind Xiaoman (Kleine Fülle), Mangzhong (Körner mit Grannen), Xiazhi (Sommersonnwende), Xiaoshu (Kleine Hitze) und schliesslich, Ende Juli bis Anfang August, Dashu (Grosse Hitze). Wie man den Bezeichnungen entnehmen kann, bezieht der Bauernkalender das Erfahrungswissen über klimatische Verläufe, Vegetationsperioden und Zyklen der Feldwirtschaft ein.

Im System der fünf Wandlungsphasen (Wu Xing) ist der Sommer durch das Element Feuer und die Farbe Rot bestimmt, durch die Naturkräfte in ihrer vollen Blüte, die höchste Entfaltung der Yang-Energie. Der prägende Klimafaktor ist die Hitze. Im I Ging entspricht dem Feuer-Element das Trigramm Li (“das Haftende”, Feuer als die erhellende und klärende Kraft, auch im Sinne des Bewusstseins, des Geistigen); es ist dem Süden, dem Mittag zugeordnet.

Im Medizinklassiker Huangdi Neijing heisst es vom Sommer:

In den drei Monaten des Sommers herrscht Überfluss an Sonnenschein und Regen. Die Energie des Himmels steigt hinab, die Energie der Erde steigt auf. Vermengen sich diese beiden Energien, findet ein Austausch zwischen Himmel und Erde statt. Das ist der Grund dafür, dass Pflanzen reifen und Tiere, Blumen und Früchte reichlich erscheinen. Zu dieser Zeit des Jahres mögt Ihr Euch etwas später zurückziehen, aber Ihr solltet immer noch früh am Morgen aufstehen. Meidet Zorn und bleibt körperlich rege, um zu verhindern, dass die Poren sich schliessen und das Qi stagniert. Ihr solltet keinem allzu intensiven Sexualleben frönen, obwohl es ein bisschen intensiver sein darf als zu anderen Jahreszeiten. Auf emotionaler Ebene ist es wichtig, fröhlich und heiter zu sein und keinen Groll zu hegen, damit die Energie frei fliessen und eine Kommunikation zwischen innen und aussen herstellen kann. So könnt Ihr vermeiden, dass im Herbst Krankheiten auftreten. (…) Schwierigkeiten im Sommer können das Herz schädigen und manifestieren sich im Herbst.
(Zitiert nach Maoshing Ni: Der Gelbe Kaiser. Das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin. Frankfurt a.M. 1998.)

Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) empfiehlt, in dieser Jahreszeit dem Organ-Funktionskreis Herz – Dünndarm, der dem Feuer-Element zugeordnet wird, besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Das Herz gilt als das allen anderen übergeordnete Organ, als “Kaiser” im Reich des Körpers, denn es ist der Sitz des Shen (wörtl. Geist), des Bewusstseins, der geistigen Persönlichkeit, der spirituellen Energie eines Menschen. Es herrscht über das Yang-Qi, welches den Blutkreislauf antreibt und damit sämtliche Lebensfunktionen aufrechterhält. Blut, Blutgefässe und Kreislaufsystem gehören zum Herz-Funktionskreis ebenso wie die Zunge, der “Spross des Herzens”, und der Dünndarm, dem es obliegt, den aus dem Magen eingehenden Nahrungsbrei aufzunehmen, dessen “reine” Anteile von den “unreinen” zu trennen und letztere an den Dickdarm weiterzugeben.  

Leben im Einklang mit den Jahreszeiten – das bedeutet im Sommer, sich ganz bewusst an all den Schönheiten zu erfreuen, die die Natur jetzt in Fülle hervorbringt, denn Freude ist die Grundemotion des Herzens. “Geh aus, mein Herz, und suche Freud’ / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben”, beginnt ein bekanntes Lied des evangelischen Geistlichen und Dichters Paul Gerhardt (1607-76). Es bedeutet im weiteren, die Feuer-Energie zu nutzen, um das Yang-Qi im Körper zu stärken und so in der kalten und dunklen Jahreszeit besser geschützt zu sein. Dazu nochmals das Huangdi Neijing:

Das Yang-Qi des Körpers ist wie die Sonne. Verliert diese ihren Glanz und ihr Leuchten, stellen alle Dinge auf der Welt ihre Aktivitäten ein. Die Sonne ist höchstes Yang. Diese himmlische Energie der Sonne, das Yang-Qi, umgibt die Erde. Auf der körperlichen Ebene bedeutet dies, dass das Yang-Qi um das Zentrum, die Mitte, zirkuliert und die Funktion hat, den Körper zu schützen. (Ebda.)

Eine ausgezeichnete Methode, um Sonnenenergie zu tanken, ist das frühmorgendliche Qi Gong-Stehen (Zhan Zhuang) nach Osten, am besten natürlich im Freien. Auch massvolles Sonnenbaden in unbekleidetem Zustand empfiehlt sich, um die inneren Organe mit Yang-Qi aufzuladen. Überhitzung und starkes Schwitzen hingegen sind unbedingt zu meiden, denn zuviel Hitze belastet Herz und Kreislauf und schwächt auch den Dünndarm und damit die Verdauungsfunktion.

Und hier weitere Übungen für das Feuer-Element bzw. den Herz-Dünndarm-Funktionskreis:

  • Öffnen und Erweitern des Brustkorbs, die 2., Rudern auf einem ruhigen See, die 6., sowie Mit einer Hand die Sonne heben, die 7. der “Taiji-ähnlichen Qi Gong-Übungen in achtzehn harmonischen Figuren” (Shibashi)
  • Die 2. sowie die 5. der acht Brokatübungen (Ba Duan Jin): Den Bogen nach links und rechts spannen und auf den Adler zielen; Mit dem Kopf nicken und das Steissbein bewegen, um das Feuer des Herzens zu vertreiben
  • Die Herz-Übung (mit dem Laut hhaah) aus den Sechs heilenden Lauten
  • Meditation: Inneres Lächeln mit Aufmerksamkeit im Zentrum des Brustraums, dem Bereich des mittleren Dantian (“mit dem Herzen lächeln”)
  • Sanfte, kreisende Massage (Uhr- und Gegenuhrzeigersinn) im Bereich des Herzens, leicht links von der Brustmitte, mit übereinander gelegten Händen und in Übereinstimmung mit dem Atem; auch behutsam tätschelnde Massage mit der flachen Hand
  • Dünndarm-Massage: mit übereinander gelegten Händen in kleinen Kreisen je 9- bis 12-mal im Uhr- und im Gegenuhrzeigersinn um den Bauchnabel streichen
  • Akupressur von HE 7 Shenmen (“Tor des Geistes”, auf der Beugefalte des Handgelenks in einer Vertiefung vor deren kleinfinger- bzw. ellenseitigem Ende, an beiden Händen); von REN 17 Shanzhong (“Brustmitte”, auf der Mitte des Brustbeins); von REN 4 Guanyuan (“Umschlossene Ursprungsenergie”, Alarmpunkt des Dünndarms, auf der vorderen Mittellinie vier Fingerbreit unterhalb des Bauchnabels)
  • Yang-Stil-Taiji Quan: fröhliche und entspannte Partnerübungen wie Tui Shou (“Schiebende Hände”, Push-hands) oder die Yang Style Taiji Fighting Form (3-teilige Kontaktform nach Chu King Hung)

 

Ernährung

  • In der heissen Jahreszeit unbedingt auf ausreichende Flüssigkeitsaufnahme achten (Wasser, Kräuter-, Früchtetee, verdünnte ungesüsste Obstsäfte); Alkoholika und scharfe Gewürze nur zurückhaltend zu sich nehmen
  • Um das “Feuer des Herzens” zu kühlen, d.h. für Personen vom Fülle-Typus oder bei Unruhe: Endivien, Radicchio, Rucola, Auberginen, Gurken, Mangold, Tomaten, Zucchetti, Erdbeeren, Johannisbeeren, Melonen, Grüntee
  • Um das “Feuer des Herzens” anzuregen, d.h. für Personen vom Leere-Typus oder bei Mattigkeit: grüne Bohnen, Fenchel, Kohlrabi, Lauch, Peperoni, Aprikosen, Brombeeren, Feigen, Heidelbeeren, Kirschen, Pfirsiche, Pflaumen, Rotwein, Schwarztee  

 

Heilpflanzen

  • Weissdorn (Crataegus oxyacantha, Blüten und Blätter, Früchte) bei Herzinsuffizienz, Altersherz, kreislaufbedingten Schwächezuständen, Herzrhythmusstörungen, nach Herzinfarkt, zur Blutdruckregulierung; innerlich als Tee aus Blüten und Blättern, Tinktur oder Heilwein aus den Früchten
  • Herzgespann (Leonurus cardiaca, Kraut) bei nervösen Herzbeschwerden, Herzklopfen, Herzrasen, Bluthochdruck, Unruhe und Schlaflosigkeit; innerlich als Tee oder Tinktur
  • Zitronenmelisse (Melissa officinalis, Blätter) bei nervösen Herzbeschwerden, Unruhe und Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit, Melancholie, bei Magen-Feuer und Fülle-Hitze des Dünndarms (d.h. nervösen Magen-Darm-Beschwerden); innerlich als Tee oder Tinktur, äusserlich (Einreibungen mit Melissengeist, Bäder) bei Herpesinfektionen, Gliederschmerzen, Migräne

Haiku zum Sommer

Wie still und ruhig
doch dort der Waldquell sprudelt
zu Kuckucksrufen.

Masaoka Shiki

Wenn in der Kiefer
die Nachtigall wohnt, ist sie
der Kiefer Stimme.

Kobayashi Issa

Dem Wind der Kiefer
lauscht völlig hingegeben
der alte Teichfrosch.

Naitô Jôsô

Räum doch den Platz da
und lass mich Bambus pflanzen,
du alte Kröte!

Taniguchi Buson

Glutheiss der Mittag
und vom Pirol am Bach nun
auch nicht ein Laut mehr.

Kobayashi Issa

Im Blitzstrahl flammte
draussen vorm Hause hell auf
die Gurkenblüte.

Taniguchi Buson

Das Wetter zieht ab:
der Baum im Rot des Abends
und Grillenzirpen.

Masaoka Shiki

Das Sommergras – ach,
und nachts doch die Einsamkeit
so unerträglich…

Nakamura Teijo

Als voller Kummer
den Hügel ich hinabstieg,
die Rosenblüten –

Taniguchi Buson

Buson (1716-84), nach dem von ihm verehrten Bashô der zweite der “grossen Vier”, Schüler des Hayano Hajin; auch bedeutender Tuschmaler. Issa (1763-1828), in ärmlichen Verhältnissen lebender, leidgeprüfter Familienvater, herausragender Dichter, einer der “grossen Vier” der Haiku-Tradition. Jôsô (1662-1704), ursprünglich Samurai, später Zen-Priester und Dichter, Schüler des Altmeisters Bashô. Shiki (1867-1902), Dichter, Schriftsteller, Literaturkritiker und Essayist, Modernisierer und einer der “grossen Vier” der Haiku-Tradition. Teijo (1900-88), angesehene Dichterin, Gründerin der Haiku-Zeitschrift ‘Fuka’. – Die Übersetzungen stammen von Jan Ulenbrook.

Sommer mit Shiki

Masaoka Tsunenori (der erste ist, wie in Japan üblich, der Familienname) stammte aus einer Gegend im heutigen Stadtgebiet von Matsuyama, Präfektur Ehime, wo er 1867 geboren wurde. Sein Vater stand im Dienst eines Regionalfürsten, die Mutter entstammte einer Gelehrtenfamilie. Ab 1883 besuchte er die höheren Schulen in Tôkyô und schrieb sich 1890 an der Universität ein; zu diesem Zeitpunkt war er bereits ein anerkannter Haiku-Dichter. Den Künstlernamen Shiki (“Gackelkuckuck”) verwendete er, seit 1889 bei ihm erstmals Bluthusten aufgetreten war, in Anspielung auf die rote Zunge dieser Kuckucksart, die den Anschein erweckt, als speie der Vogel Blut beim Singen. Ab 1892 arbeitete Masaoka als Journalist und während des japanisch-chinesischen Kriegs 1894/95 ungeachtet seiner fragilen Gesundheit als Kriegsberichterstatter. Zurückgekehrt, gründete er in seiner Heimatstadt Matsuyama die berühmte, heute noch bestehende Haiku-Zeitschrift Hototogisu (ein anderer Name für den Gackelkuckuck) und entfaltete eine rege literarische Tätigkeit in den Bereichen Lyrik, Prosadichtung, Essayistik und Literaturkritik. Die letzten Jahre seines Lebens, das bereits 1902 im Alter von 35 Jahren endete, kämpfte Shiki, bis zuletzt unermüdlich schreibend, gegen die Tuberkulose, an der er erkrankt war.

Gegenüber gewissen Tendenzen zur Verkünstlichung und Literarisierung im traditionellen Haiku der Edo-Zeit stellte Shiki, der als bedeutender Erneuerer der Gattung gilt, die Forderung des shasei auf (“die Dinge so beschreiben, wie sie sind”). Statt konstruierter, anspielungsreicher Gedichte verlangte und schuf er solche, die in schlichter Weise authentische, erlebte Momente der Begegnung mit Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. Das geht so weit, dass, wie seine Biographin und englische Übersetzerin Janine Beichman schreibt, “some [of his haiku], in fact, are so simple and bare that in translation they are difficult to differentiate from the most banal prose”.  

Die Übersetzungen stammen von Gerolf Coudenhove (GC), Thomas Hemstege (TH), Dietrich Krusche (DK) und Jan Ulenbrook (JU).

 

Gegen vier Uhr nachts
Krähen, um fünf Uhr Spatzen,
dann wird es schon hell.

(TH)

Kurze Sommernacht –
Meine Lampe brennt ja noch –
Horch – schon schlägt es vier.

(GC)

Die Kakiblüten
sind abgefallen – oben
auf die Lehmmauer.

(TH)

Im Dunkel der Nacht
verbreiten sie ihren Duft,
die Lotusblüten.

(TH)

Tropfen für Tropfen
weht der Wind Regen herein –
der Bambusvorhang.

(TH)

Sommerregenguss –
und den Karpfen klopfen die
Tropfen auf den Kopf.

(GC)

Der Sturm des Sommers
fegt alle Papiere fort
von meinem Schreibtisch.

(TH)

Vom Haus des Fischers
Gestank von trocknen Fischen
bei dieser Hitze.

(JU)

Der grosse Buddha
ist kühl bis ans Herz
in der Hitze.

(DK)

Sommerfluss.
Da ist eine Brücke, doch
das Pferd geht durchs Wasser.

(DK)

Die Pferdebremse
geht mir vom Strohhut nicht weg
bei dieser Hitze.

(JU)

Das Wetter zieht ab:
der Baum im Rot des Abends
und Grillenzirpen.

(JU)

Der Berg wird ganz still,
nachdem die Schlange entfloh.
Lilienblüten.

(TH)

Die Parkanlage.
Einsam sucht dort Erfrischung
ein reisender Mann.

(TH)

Vom Krankenlager
geht der Blick in den Garten
zur Päonie.

(TH)

Meine Lebenszeit,
ach, wie lange währt sie noch?
Ja, die Nacht ist kurz…

(GC)

Auf roten Nelken
der weisse Schmetterling –
von wem die Seele?

(JU)


Spätsommer und Herbst –
im Zeichen des Erd- und des Metall-Elements

Liebe Qi Gong- und Taiji-Interessierte
Liebe Freunde der inneren Kultivierung

Gemäss dem chinesischen sogenannten Bauernkalender teilt sich das (Sonnen-)Jahr in vierundzwanzig Abschnitte zu jeweils 15 bzw. 16 Tagen. Als Herbstanfang (Liqiu) werden die Tage ab dem 7./8. August bezeichnet. Die weiteren Abschnitte des Herbstes sind Chushu (Ende der Hitze), Bailu (Weisser Tau), Qiufen (Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche), Hanlu (Kalter Tau) und schliesslich, Ende Oktober bis Anfang November, Shuangjiang (Fallender Reif). Wie man sieht, stellt das Äquinoktium für die Chinesen nicht den Anfang, sondern bereits den Höhepunkt des Herbstes dar. Entsprechendes gilt für Frühling, Sommer und Winter: Sie beginnen ebenfalls schon sechs Wochen vor der Tag-und-Nacht-Gleiche bzw. der Sonnwende, was in der Tat dem klimatischen Verlauf und den Vegetationsphasen besser gerecht wird.

Im System der fünf Wandlungsphasen (Wu Xing) geht dem eigentlichen Herbst noch der Spätsommer als fünfte Jahreszeit voraus; er entspricht in etwa dem Monat August und ist durch das Element Erde und die Farbe Gelb bestimmt, durch die Reifephase des Getreides und der Früchte. Im I Ging entspricht dem Erd-Element das Trigramm Kun (“das Empfangende”, Mutter Erde als die Nährerin des Lebens; dem Südwesten zugeordnet). Die fünf Wandlungsphasen prägen sowohl unseren Lebensweg – von der schwellenden Jugend (Holz) über die kraftvolle Entfaltung des Lebens im Erwachsenenalter (Feuer) zur Phase der Reife (Erde), des Loslassens (Metall) und der Rückkehr zum Ursprung (Wasser) – als auch den Jahreslauf, und sie laden uns ein, das jeweils Naturgegebene zu betrachten und uns entsprechend zu kultivieren. So geht es im Frühling darum, die Winterstarre zu lösen, unsere Glieder zu lockern und wieder in Schwung zu kommen, im Sommer, Licht und Wärme zu tanken und uns der puren Lebensfreude zu öffnen, im Herbst, unseren Organismus auf die dunkle und kalte Jahreszeit vorzubereiten, und im Winter darum, in Stille und Zurückgezogenheit unsere Kräfte zu wahren und zu erneuern. Der Spätsommer, die Jahreszeit des Erd-Elements, ist die Zeit der Fülle und darf in einem verständigen und vernünftigen Sinne – nichts im Übermass! – mit Schwelgen und Schlemmen zugebracht werden. Doch auch der Erntedank gehört dazu: nicht als blosses Ritual, sondern als bewusst gelebte Dankbarkeit für die Gaben von Mutter Erde!

Gemäss TCM sollte in dieser Übergangsjahreszeit naheliegenderweise dem Organ-Funktionskreis Milz – Magen, der auch die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) einschliesst, d.h. dem Verdauungssystem, besondere Aufmerksamkeit zukommen. So heisst es im Huangdi Nei Jing:

In der [Jahres-]Mitte finden wir Feuchtigkeit, die die Erde nährt und befeuchtet, so dass sie fruchtbares Land bilden kann. In der Zeit zwischen Sommer und Herbst, im Spätsommer, reifen die Früchte und werden gelb. Reife Früchte sind süss und können das Milz-Qi nähren, das dann seinerseits Muskeln und Fleisch nährt. (…) Pathologische Trübheitszustände weisen auf ein Ungleichgewicht in der Milz hin; Grübeln und Sorge treten auf. Übermässige Sorge erschöpft das Milz-Qi, aber Zorn kann die Sorge zügeln.
(Zitiert nach Maoshing Ni: Der Gelbe Kaiser. Das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin. Frankfurt a.M. 1998.)

Etwa mit dem Jahresabschnitt “Weisser Tau” ab 7./8. September könnte man den Beginn des eigentlichen Herbstes ansetzen. Er ist bestimmt durch das Element Metall und die Farbe Weiss, durch den Vorgang des Welkens, der zeigt, dass das Yang schwächer wird und die Yin-Kräfte erstarken. Im I Ging entsprechen dem Metall-Element die Trigramme Dui (“das Heitere”, der See; Yin-Aspekt, dem freundlichen Mittherbst und dem Westen zugeordnet) und Qian (“das Schöpferische”, der Himmel; Yang-Aspekt, dem strengen Spätherbst und dem Nordwesten zugeordnet). Gemäss TCM sollte in dieser Jahreszeit dem Organ-Funktionskreis Lunge – Dickdarm besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Im Huangdi Nei Jing heisst es:

In den drei Monaten des Herbstes kommen alle Dinge in der Natur zu voller Reife. Das Korn wird geerntet, die Energie des Himmels kühlt ab, so wie auch das Wasser. Der Wind beginnt sich zu regen. Das ist der Angelpunkt, an dem die Yang-Phase, die aktive Phase, ins Gegenteil, in die Yin-, die passive Phase, umschlägt. Ihr solltet Euch mit dem Sonnenuntergang zurückziehen und in der Morgendämmerung aufstehen. So wie das Wetter im Herbst unwirtlicher wird, so verändert sich auch das emotionale Klima. Deswegen ist es wichtig, Ruhe und Frieden zu bewahren und nicht in Depressionen zu verfallen, denn nur so kann der Übergang zum Winter reibungslos verlaufen. Es ist die Zeit, Geist und Energie zu sammeln, sich auf weniges zu konzentrieren und die Begierden im Zaum zu halten. Ihr müsst die Lungen-Energie in Fülle, rein und ruhig halten, das heisst Atemübungen durchführen, und Kummer, der Emotion der Lunge, aus dem Weg gehen, um das Lungen-Qi zu stärken.
(Ebda.)

Übungen im Spätsommer

Den Kopf drehen und den Mond anschauen, die 8., Wolkenhände, die 10., Mit einem Ball spielen wie ein Kind, die 17., sowie Beruhigen des Qi, die 18. der “Taiji-ähnlichen Qi Gong-Übungen in achtzehn harmonischen Figuren” (Shibashi)
Die 1. und 3. der acht Brokatübungen (Ba Duan Jin): Mit beiden Händen den Himmel stützen, um den Dreifachen Erwärmer zu regulieren; Die Arme einzeln hochheben, den Himmel stützen und die Erde stemmen, um Milz und Magen zu stärken
Die Milz-Übung (mit dem Laut hhuuh) aus dem Set Sechs heilende Laute
Meditation: Inneres Lächeln mit Aufmerksamkeit im Bereich des Nabelzentrums; dazu kann ein reifes Getreidefeld, eine Sonnenblume oder einfach die Farbe Gelb visualisiert werden
Massage von Milz und Magen: mit übereinander gelegten Händen die linke Seite des Bauches zwischen Flanke und Nabelgegend sanft horizontal reiben
Akupressur von MI 3 Taibai (“Höchstes Weiss”, an der Fussinnenseite vor dem Grosszehen-Grundgelenk, im Übergang zwischen Fussrücken und -sohle, an beiden Füssen) sowie von MA 36 Zusanli (“Drei Längen zum Fuss”, vier Fingerbreit unterhalb der Unterkante der Kniescheibe auf dem Muskel neben der äusseren Kante des Schienbeins, an beiden Beinen)
Yang-Stil-Taiji Quan: 1. Teil (“Erde”) der langen 3-teiligen Hand-Soloform – achtsames Üben speziell “erdender” Figuren wie Der Affe weicht zurück (im 2. und 3. Teil), Die Schlange kriecht nach unten (3. Teil)

Übungen im Herbst

Öffnen und Erweitern des Brustkorbs, die 2., Mit einer Hand die Sonne heben, die 7., sowie Die Faust stossen und den Arm strecken, die 14. der “Taiji-ähnlichen Qi Gong-Übungen in achtzehn harmonischen Figuren” (Shibashi)
Die 1. der acht Brokatübungen (Ba Duan Jin): Mit beiden Händen den Himmel stützen, um den Dreifachen Erwärmer zu regulieren
Die Lungen- sowie die Dreifacher-Erwärmer-Übung aus dem Set Sechs heilende Laute; die Heillaute sind sssh bzw. hhiih
Meditation: Inneres Lächeln mit Aufmerksamkeit in beiden Lungenflügeln, hernach in den Abschnitten des Dickdarms (aufsteigendes – querverlaufendes – absteigendes Kolon – Sigma und Enddarm); dazu kann das metallische Glitzern von Wellen auf einem See im späten Nachmittagslicht, eine Chrysantheme mit schimmernd weissen Blüten oder einfach “flüssiges” weisses Licht visualisiert werden
Sanfte Klopfmassage der Lungenflügel jeweils mit der flachen Hand der gegenüberliegenden Seite
Massage des Dickdarms: mit übereinander gelegten Händen in grossen Kreisen 9- bis 12-mal von der Blinddarmgegend aus (an der rechten Seite des Unterbauches) um den Bauchnabel streichen – bei normaler Verdauung sowie bei Verstopfungsneigung im Uhr-, bei Durchfallneigung im Gegenuhrzeigersinn
Akupressur von LU 1 Zhongfu (“Mitten im Amtssitz”, zwei Fingerbreit unter dem Schlüsselbein in der Mulde zwischen Brustmuskel und Schulter, an beiden Seiten der Thorax-Vorderwand); von REN 17 Shanzhong (“Brustmitte”, Meisterpunkt der Atmungsorgane, auf der Mitte des Brustbeins); von DI 11 Quchi (“Teich in der Biegung”, in der Vertiefung, die bei gebeugtem Arm am äusseren Ende der Beugefalte des Ellbogens entsteht, an beiden Armen
Yang-Stil-Taiji Quan: Yin-Yang-Form mit Vertiefung der natürlichen Bauchatmung (yin: ein, yang: aus)

 

Ernährung im Spätsommer

Kalte Getränke, Eis, Süssgetränke, Süssigkeiten und zuviel Rohkost und Milchprodukte schwächen das Milz-Qi, erzeugen Schleim und lassen den Körper “versumpfen”; die Folgen sind Verdauungsbeschwerden, Übergewicht, Mattigkeit, Antriebsschwäche und rheumatische Erkrankungen.
In China und in vielen orientalischen Ländern wird auch in der warmen Jahreszeit Tee und heisses Wasser getrunken – so bleibt das “Magenfeuer” intakt.
Früchte, im Spätsommer v.a. die gelben, aber auch Mais, Hirse, Karotten und Süsskartoffeln stillen auf natürliche und gesunde Weise das Bedürfnis nach Süssem.
Gewürze wie Ingwer, Zimt und Kümmel wärmen den Körper und fördern die Verdauung.

 

Ernährung im Herbst

Gemüse von weisser Farbe wie Rettich, Meerrettich, Radieschen, Frühlingszwiebel, Lauch, Zwiebel und Gewürze wie Chili, Pfeffer, Knoblauch unterstützen mit ihrer Schärfe das Metall-Element (Lunge, Dickdarm).
Zuviel scharfe Gewürze zerstreuen das Qi; bei Anzeichen einer Erkältung jedoch öffnen sie die Poren und fördern das Schwitzen.

 

Heilpflanzen

Schafgarbe (Achillea millefolium, Blüten und Kraut) bei Milz-Qi-Mangel, z.B. Verdauungsbeschwerden, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Magen- und Unterleibskrämpfen; innerlich als Tee oder Tinktur
Gelber Enzian (Gentiana lutea, Wurzel) zur Magenstärkung bei Appetitlosigkeit, Völlegefühl, Blähungen, Übelkeit, Gastritis sowie Müdigkeit und Schwäche der Muskulatur; innerlich als Pulver, Tinktur oder Heilwein
Efeu (Hedera helix, Blätter) bei Schwäche des Lungen-Qi und des Wei Qi (Abwehr-Qi), z.B. fiebrigen Erkältungen, hartnäckigem Husten und Schnupfen, Rachen-, Kehlkopfentzündung, Bronchitis, Asthma; innerlich als Tinktur
Ruprechtskraut (Geranium robertianum, Blüten und Kraut) bei Nässe-Hitze im Dickdarm und Schwäche des Wei Qi, z.B. chronischen Entzündungen im Magen-Darm-Trakt, chronischem Durchfall, Hauterkrankungen, erhöhter Infektanfälligkeit durch Lymphbelastung, zur Ausleitung von Giften und Schwermetallen; innerlich als Tee oder Tinktur

 

Haiku zum Spätsommer und Herbst

Der Reis geschnitten
und die Kamille kraftlos
am schmalen Feldweg.

Masaoka Shiki

Der Mond und ich nur,
wir blieben einzig übrig
am kühlen Stege.

Tagami Kikusha

Oh, welch ein Vollmond:
Ich ging um den Weiher fast
die ganze Nacht durch.

Matsuo Bashô

Der Herbst beginnt schon:
Auf meiner Binsenmatte
die Kiefernnadel.

Aoki Getto

Der Wind des Herbstes…
Das Ziel der Lebensreise,
das unbekannte.

Masaoka Shiki

Trotz allem Regen
sind dort am Zaun erblüht nun
des Herbstes Astern.

Abe Midorijo

Der Geist der Stille
zieht in uns ein beim Anblick
von weissen Astern.

Iida Dakotsu

Auf kahlem Astwerk
liess sich die Krähe nieder:
des Herbstes Abend.

Matsuo Bashô

Nach meiner Ansicht
ist auch das Schattenreich solch
ein Spätherbstabend.

Matsuo Bashô

 

Bashô (1644-94), Zen-Mönch, Pilger, überragende Gestalt der Haiku-Dichtkunst, einer der “grossen Vier”. Dakotsu (1885-1962), begann als Schüler von Takahama Kyoshi, Herausgeber der Zeitschrift ‘Ummo’. Getto (1879-1949), Schüler von Shiki. Kikusha-ni (1752-1826), Nonne und Pilgerin, angesehene Dichterin, Tuschmalerin, Kalligraphin und Koto-Spielerin. Midorijo (1886-1980), veröffentlichte ihre Haiku in der von Shiki gegründeten Zeitschrift ‘Hototogisu’. Shiki (1867-1902), Dichter, Schriftsteller, Literaturkritiker und Essayist, Modernisierer und einer der “grossen Vier” der Haiku-Tradition. – Die Übersetzungen stammen von Jan Ulenbrook.

Herbst mit Bashô

Matsuo Kinsaku (der erste ist der Familien-, der zweite der Kindesname; späterer Rufname: Munefusa) wurde 1644 als Sohn eines Samurai niederen Ranges in der Nähe von Kyôto geboren und diente in seiner Jugend bei einer Adelsfamilie als Page des Prinzen. Ab 1663 war er Schüler des universal gebildeten Dichters Kitamura Kigin (1624-1705) in Kyôto, dem er bald nach dem frühen Tod seines jungen Dienstherrn nach Edo, dem heutigen Tôkyô, folgte. Als er 1680 das ihm von einem Gönner zur Verfügung gestellte Häuschen im Stadtteil Fukagawa bezog, war er bereits ein arrivierter Literat mit zahlreichen Schülern. Die prächtige Bananenstaude (Musa basjoo, Japanische Faser-Banane) neben seiner Hütte regte ihn dazu an, sich fortan Bashô zu nennen. In dieser Zeit erhielt er Unterweisungen durch den Abt eines in der Nähe gelegenen Zen-Klosters und studierte das Zhuangzi, einen bedeutenden daoistischen Klassiker, sowie die vom Daoismus geprägten grossen Dichter der chinesischen Tang-Dynastie. Diese Einflüsse wirkten sich stark auf sein Schreiben aus; er wandte sich vom vorherrschenden locker-humoristischen Stil ab und strebte in seinen Dichtungen nach Einswerdung des eigenen Selbst mit der Natur. Nachdem 1682 seine Hütte niedergebrannt war und obschon seine Schüler sie ihm wieder aufbauten, begann er in den folgenden Jahren weite Teile Japans zu bereisen – oft zu Fuss, teils allein, teils in Begleitung – und verfasste zahllose Haikai sowie seine berühmten Reisetagebücher. Matsuo Bashô starb im Spätherbst 1694, nachdem er seine letzte Fussreise wegen schwerer Erkrankung hatte abbrechen müssen, in Ôsaka.

Die Übersetzungen stammen von Gerolf Coudenhove (GC), Dietrich Krusche (DK), Jan Ulenbrook (JU) und Udo Wenzel (UW).

 

Niemand wüsste, dass
sie so bald schon sterben muss,
der die Grille hört –

(GC)

Im ersten Herbste
das Meer wie frisches Reisfeld:
ein tiefes Blaugrün.

(JU)

Oh, welch ein Vollmond:
Ich ging um den Weiher fast
die ganze Nacht durch.

(JU)

Am Strassenrand
die Sharonrose,
von meinem Pferd gefressen

(UW)

Nachts, heimlich
im Mondlicht: ein Wurm
durchbohrt eine Kastanie

(UW)

 Auf kahlem Astwerk
liess sich die Krähe nieder:
des Herbstes Abend.

(JU)

Wie der Herbststurm rast!
Fast als wehte er im Wald
selbst den Keiler fort!

(GC)

Morgendämmerung –
durch den trüben Nebeldunst
dringt der Glocke Ton.

(GC)

Tosende See.
Nur die Milchstrasse reicht
zur Insel Sado hinüber.

(DK)

Tiefer Herbst.
Mein Nachbar –
wie mag’s ihm gehn?

(DK)

Der Gott ist fern.
Die welken Blätter häufen sich
ums verlassene Haus.

(DK)

Nach meiner Ansicht
ist auch das Schattenreich solch
ein Spätherbstabend.

(JU)

Vom Wandern schwer krank:
Ein Traum, der dürre Heide
im Kreise durchirrt.

(JU)

Diesen Weg
geht niemand
an diesem Herbstabend.

(DK)


Winter –
Jahreszeit im Zeichen des Wasser-Elements

Liebe Qi Gong- und Taiji-Interessierte
Liebe Freunde der inneren Kultivierung

Die Tage um den 7. und 8. November markieren nach dem chinesischen sogenannten Bauernkalender den Winteranfang (Lidong). Die weiteren, jeweils 15 Tage dauernden Abschnitte des Winters sind Xiaoxue (Kleiner Schnee), Daxue (Grosser Schnee), Dongzhi (Wintersonnwende), Xiaohan (Kleine Kälte) und schliesslich, Ende Januar bis Anfang Februar, Dahan (Grosse Kälte).

Im System der fünf Wandlungsphasen (Wu Xing) ist der Winter durch das Element Wasser und die Farbe Schwarzblau bestimmt, durch Rückzug und Bewahren der Kräfte in Stille während dieser von Dunkelheit und Kälte geprägten Jahreszeit. Im I Ging entspricht dem Wasser-Element das Trigramm Kan (“das Abgründige”, Wasser als die dunkle, alles durchdringende, unbezwingliche Kraft, die in der Tiefe wirkt).

Gemäss TCM sollte in dieser Jahreszeit dem Organ-Funktionskreis Niere – Blase besondere Aufmerksamkeit zukommen. Dieser umfasst, soweit der westlichen Medizin analog, Sexualität, Fortpflanzung und Wasserausscheidung, also das Urogenitalsystem, darüber hinaus aber Knochen, Gelenke, Knochen- und Rückenmark, somit auch das Zentralnervensystem inklusive Gehirn und schliesslich den Gehörssinn. Gemäss den chinesischen Medizinklassikern speichern die Nieren das Jing, die uns von unseren Eltern im Zeugungsakt übertragene Lebenskraft – gewissermassen unsere energetische Grundausstattung. Im Laufe des Lebens wird dieser Vorrat nach und nach abgebaut. Langlebigkeit beruht darauf, das Jing nicht zu vergeuden, es vielmehr zu hüten und zu nähren; dafür ist gerade der stille Winter die rechte Zeit. Was uns auf Dauer besonders “an die Nieren geht”, sind Tabletten-, Alkohol- und Nikotinmissbrauch, zwanghafte, lieblos gelebte und zügellose Sexualität, schlechte Ernährung, ungeregelter Schlaf, chronische Überarbeitung, andauernder Stress. Sehr problematisch sind ausserdem unverarbeitete Traumata, Schockerlebnisse und daraus resultierende tiefsitzende Ängste.

Das Huangdi Nei Jing rät:

Während der Wintermonate welken die Dinge, sie ziehen sich zurück, gehen nach Hause und treten in eine Phase der Ruhe ein, so wie Seen und Flüsse zufrieren und Schnee fällt. Es ist eine Zeit, in der das Yin das Yang dominiert. Deswegen solltet Ihr es vermeiden, die Yang-Energie übermässig zu beanspruchen. Zieht Euch bald zurück, und steht mit der Sonne auf, also etwas später als zu anderen Zeiten des Jahres. Vor allem solltet Ihr Eure sexuellen Begierden zügeln, als wolltet Ihr ein freudiges Geheimnis verbergen. Haltet Euch warm, meidet die Kälte, und lasst die Poren geschlossen. Vermeidet jedes Schwitzen. Kennzeichen des Winters ist das Speichern und Bewahren. Befolgt Ihr diese Prinzipien nicht, wird die Nieren-Energie in Mitleidenschaft gezogen.
(Zitiert nach Maoshing Ni: Der Gelbe Kaiser. Das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin. Frankfurt a.M. 1998.)

Übungen

Die dritte und die achte der “Taiji-ähnlichen Qi Gong-Übungen in achtzehn harmonischen Figuren” (Shibashi): Einen Regenbogen bewegen; Den Kopf drehen und den Mond anschauen
Aus den Ba Duan Jin (acht Brokatübungen) die Nieren-Übung Mit beiden Händen die Füsse fassen, um Hüften und Nieren zu stärken
Nieren-Übung (mit dem Laut düüh) aus dem Set Sechs heilende Laute
Meditation: Inneres Lächeln, während die Aufmerksamkeit nacheinander längere Zeit beim Huiyin (Dammpunkt), im unteren Dantian (Beckenraum unterhalb des Nabels) und im Bereich zwischen dem Nabel und der Wirbelsäule verweilt
Mit übereinander gelegten flachen Händen nacheinander in beiden Richtungen – im Gegen- wie im Uhrzeigersinn – kreisend den Unterbauch massieren, hierauf im Rücken mit Fäusten in beiden Richtungen – auswärts wie einwärts – auf den Nieren kreisen und schliesslich mit flachen Händen das Kreuzbein auf und ab reiben, bis sich Wärme im Lendenbereich und im Becken ausbreitet
Akupressur von NI 1 Yongquan (“Sprudelnde Quelle”, in der Mitte des vorderen Teils der Fusssohle zwischen den Ballen, an beiden Füssen)
Taiji Quan: Beim Üben der Form und in der Stehmeditation Zhan Zhuang immer wieder alle Anspannung in den Muskeln, in Kopf, Schultern und Armen, Brust und Bauch los- und die Energie mit jedem Ausatem bewusst ins untere Dantian sinken lassen


Ernährung

Kohlarten, Wurzelgemüse, Kürbis, Esskastanien, Pilze, etwas mehr gesottenes und gebratenes Fleisch als zu anderen Jahreszeiten, wärmende Gewürze, Ingwer, Dörrfrüchte, Kernobst, Nüsse

Heilpflanzen

Efeu (Hedera helix, Blätter) bei fiebrigen Erkältungen, Atemwegsentzündungen, Abwehrschwäche; Tee zur äusserlichen, Tinktur oder Fertigarznei zur innerlichen Anwendung
Goldrute (Solidago virgaurea, Blüten und Kraut) bei Nierenerkrankungen, Harnwegsinfekten, Prostatabeschwerden; innerlich als Tee, Tinktur oder Fertigarznei
Wacholder (Juniperus communis, Beeren) prophylaktisch zur Immunstärkung, bei ersten Anzeichen einer Erkältung, bei Erschöpfung, Kältegefühl, Depression, harntreibend; täglich bis 15 Beeren als 4-wöchige Kur

 

Haiku zum Winter

Die Rosenblüte
erstarb in diesen Tagen:
Oh, welche Kälte!

Masaoka Shiki

Die letzten Astern
in ihrem Rostbraun nun schon
gealtert aussehn.

Matsumoto Takashi

Im Abendnieseln
mit so zäher Leidenschaft
der alte Angler.

Taniguchi Buson

Auf Entenflügel
der zarte Schnee sich häuft:
Oh, diese Stille!

Masaoka Shiki

Auf meinem Heimweg
des Tages Dunkelwerden
auf kahler Heide.

Mokudô

Der eine Vogel
als Weggenosse um mich
auf kahler Heide!

Mikami Senna

Auf Feld und Hügel
regt sich kein lebend Wesen
im Schnee des Morgens.

Fukuda Chiyo-ni

Beim Licht des Nachbarn
sitze an meinem Tisch ich.
Oh, diese Kälte.

Kobayashi Issa

Vom Wandern schwer krank:
ein Traum, der dürre Heide
im Kreise durchirrt.

Matsuo Bashô

 

Bashô (1644-94), Zen-Mönch, Pilger, überragende Gestalt der Haiku-Dichtkunst, einer der “grossen Vier”. Buson (1716-84), nach dem von ihm verehrten Bashô der zweite der “grossen Vier”, Schüler des Hayano Hajin; auch bedeutender Tuschmaler. Chiyo-ni (1703-75), schrieb bereits als Kind Haiku, Enkelschülerin Bashôs, populäre Dichterin, später Nonne. Issa (1763-1828), in ärmlichen Verhältnissen lebender, leidgeprüfter Familienvater, bedeutender Dichter, einer der “grossen Vier” der Haiku-Tradition. Mokudô (1666-1723), Schüler des Altmeisters Bashô. Senna (1651-1723), Vorsteher eines buddhistischen Tempels und zeitweilig Schüler Bashôs. Shiki (1867-1902), Dichter, Schriftsteller, Literaturkritiker und Essayist, Modernisierer und einer der “grossen Vier” der Haiku-Tradition. Takashi (1906-56), Nô-Schauspieler, Dichter und Schriftsteller. – Die Übersetzungen stammen von Jan Ulenbrook.

Winter mit Buson

Yosa (mit ursprünglichem Familiennamen: Taniguchi) Buson kam 1716 in einem Dorf bei Ôsaka zur Welt. In seiner Jugend studierte er in Edo (Tôkyô) bei dem Haikai-Meister Hayano Hajin die Dichtkunst und ausserdem Landschaftsmalerei. Nach Wanderjahren, in denen er auf den Spuren seines grossen Vorbilds Bashô die Landstriche im Norden durchstreifte, liess er sich im Alter von etwa vierzig Jahren in Kyôto nieder, gründete eine Familie und begann Schüler um sich zu sammeln – von diesem Kreis ging eine das literarische Leben prägende Bashô-Renaissance aus. Buson, der auch in der Landschafts- und Genremalerei im damals modischen chinesisch beeinflussten Nanga-Stil erfolgreich war, starb 1784 in Kyôto.

Die Übersetzungen stammen von G. S. Dombrady (GSD), Dietrich Krusche (DK) und Jan Ulenbrook (JU).

 

Winterregen.
Eine Maus läuft über die Saiten
der Mandoline.

(DK)

Es dunkelt früh!
Schon leuchten die Sterne
über dem Ödland …

(GSD)

Beunruhigend:
des Anglers Verbissenheit
im Winterregen.

(GSD)

Im alten Teiche
versank die Strohsandale
bei Schnee und Regen.

(JU)

So rauh der Winter!
Die kleinen Vögel suchen
im Feld den Lauch ab.

(JU)

Eisiger Winterwald –
bei diesem Mond aber muss jeder
sein Leid vergessen …

(GSD)

Sägen hört man
mitten in der Winternacht –
klingt nach Armut.

(GSD)

Nacht. Ich beisse den
gefrorenen Pinsel mit
meinem letzten Zahn.

(DK)

Der eine Windstoss
liess all die Wasservögel
viel weisser aussehn!

(JU)

Bei Frost und Mondschein
die kleinen Kiesel spüren
unter den Sohlen …

(JU)

Komm, lass uns schlafen gehen!
Das neue Jahr ist eine
Sache von morgen!

(DK)

Verschneiter Wintermorgen:
Aus dem Haupthaus kringelt
glückverheissender Rauch!

(GSD)